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Eine Stimme für die Stummen – ein Gedicht von Kiara Kern

Eine Stimme für die Stummen

Ist hier noch Platz frei? fragen sie leise.

Nein, sicher nicht, habt ihr ne Meise?

Sprechblasen, gefüllt mit unsichtbarem Gift

sorgen dafür, dass es die Unschuldigen trifft.

Die Welt ist voll von ihnen:

zu dick, zu dünn, zu klug, zu dumm –

gehänselt von den anderen, irgendwann stumm.

Sie möchten so sein, wie sie sind –

als Dank dafür wartet ein Geschenk im Spind.

Eine tote Maus, ein zerknüllter Brief,

egal, was es diesmal ist, der Schock sitzt tief.

Es wird gelacht, gebrüllt, geschlagen,

die Schule ist kaum noch zu ertragen.

Die anderen, die wahrhaft Dummen,

bringen sie zum verstummen.

Dabei sind sie perfekt, so, wie sie sind.

Nämlich sie selbst,

mit Fehlern, Ecken, Kanten,

allen Varianten.

Doch sie wissen es nicht und brüten und wüten,

jeder allein in seinem Zimmer –

das macht es nur noch schlimmer.

Niemand kommt auf Besuch, kein einziges Kind,

gepeinigt von allen, weil sie sie selber sind.

Die MACHT liegt irgendwo auf dem Pausenplatz

im festen Griff der anderen, behütet wie ein Schatz.

Sie fragen sich, was sie falsch machen,

warum die anderen schon wieder lachen,

sie mit Worten bewerfen – leichtfertig

die OHNmacht scheint nun allgegenwärtig.

Mit jedem Tag schwindet ihre Kraft –

so gewinnt man keine Schlacht.

Die eigene Sprechblase leer,

der innere Kampf zu schwer.

Inzwischen sind sie unsichtbar, ihr Licht schon verblasst –

sind die nun zufrieden, werden sie nun nicht mehr gehasst?

Nein, von wegen, das reizt die nur noch mehr –

die Tortur geht weiter, doch sie setzen sich zur Wehr.

Gestern noch komplett am Boden,

heute, in diesem Augenblick, fängt's an zu brodeln.

Endlich sehen sie es ein:

sie sind rein,

noch immer perfekt, so, wie sie sind –

nämlich lediglich "Kind".

Einfach sie selbst,

mit Fehlern, Ecken, Kanten,

allen Varianten.

Sie stehen auf und tun sich zusammen,

erheben ihre Stimme, ihre Worte werden zu Flammen.

DREI Buchstaben werden neu entfacht –

wechseln prompt den Kurs, wer hätte das gedacht;

die Mächtigen nun OHNe MACHT.


(OHN)MACHT: NEHMT DER MACHT IHRE MACHT, LÖSCHT DREI BUCHSTABEN.


 

Kiara Kern, erzähl was über dich!

Ich bin Züricher Autorin und setzte mich unter anderem für einen Perspektivenwechsel und Abbau von Vorurteilen in Sachen psychischer Erkrankungen ein. Aus diesem Grund habe ich eine Romanserie dazu entwickelt: fremdgefabelt und fremdgeträumt. Dieser Text ist inspiriert von @lukasdichtet.

Mehr von mir zu lesen und zu schauen gibt es auf meiner Website (www.kiarakern.com) und auf Instagram (@kiarakern88).


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