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Krieg vom selben Blut – eine Erzählung von Inga Hagemann

Krieg vom selben Blut

Perspektive 1 (Olga):

Eine Bewegung, das war alles, was es brauchte. Eine Bewegung und ich wusste wer du warst.

Zwei Tage seit dem letzten Beschuss. Schon seit Wochen nährt die Linie nichts als gelegentliches Regenwasser, das zugleich die Brote durchweicht.

Nichts als Wasser und Brot. Brot wie Wasser. Brot ohne Spiele.

Ich bin Geschichtsstudentin. Gewesen, vor dem Krieg. Jetzt schreiben wir Geschichte, doch es fühlt sich wenig historisch an, eigentlich durchweg ernüchternd. Krieg, das habe ich in den letzten Monaten gelernt, hat grausame Realitäten, die sich hinter der glorreichen Schale verstecken. Wobei sie sich eigentlich nicht verstecken, nein, das tun sie nun wirklich nicht. Wir sind nur zu blind, sie zu sehen. Oder wollen blind sein.

Blind.

Mit das Schlimmste ist, dass wir nicht wissen, wer sie sind. Unsere Gegner. Sie kommen aus einem anderen Land, einem riesigen Volk, das sich anderer Völker annimmt. Mehr wissen wir nicht.

Wir kennen keine Gesichter.


Perspektive 2 (Alexander):

Zwei Tage seit dem letzten Angriff. Langsam aber sicher geht uns die Munition aus. Ein schwer verwundeter Kamerad reicht mir ein triefendes Stück Mullbinde, ich gucke in die rote Pfütze, die es zu meinen Füßen hinterlässt. Fleischwunde. Mitten in meinem Gesicht.

Vor drei Wochen ist mein Waffenbruder gestorben, sein Name war Ravi. Ravi war mir seit einem Vierteljahr eine Stütze gewesen, wir lernten uns in der Armee kennen. Für mich war er ein Vorbild, der Inbegriff von Vitalität. Kurz bevor die feindliche Artillerie ihn traf, sagte er zu mir, ich weiß es, als wäre es gestern gewesen, er sagte:

„Wir alle werden in diesem Krieg unsere Opfer bringen, mein Freund. Manchen wird ihr Opfer ein Arm oder ein Bein sein, eine Erinnerung oder ein Freund. Aber manchen, vielen, wird sogar das Leben selbst genommen werden.“

Weil es mir seit jeher hilft, Bedeutungsschwangeres mit meinem Humor zu entkräften, erwiderte ich: „Die Kugel will ich erstmal sehen, die sich in deine Nähe traut.“ Und wir kicherten lautstark.

Heute, drei Wochen später, laufe ich allein durch den Schützengraben. Die Kugel hatte keine Achtung vor Ravi gehabt, weil der Mensch hinter ihrem Abzug verschwunden ist.

Dieser Tage drücken Tiere ab.


Perspektive 1 (Olga):

Wer spielt diese Schachpartie?

Es kommt mir so vor, als gäbe es nur schwarz und weiß, doch dieser Krieg ist eine einzige Grauzone. Wer steht wo? Wer trägt welche Farbe?

Weiß.

Sie haben zuerst gezogen. Und uns überrannt.


Perspektive 2 (Alexander):

Wie ich zur Armee kam?

Eines Morgens hieß es „Mitkommen!“ und ich stand auf. Vom Frühstückstisch. Wassertau von meinen Stiefeln perlend, musste ich Richtung Front marschieren. Wobei ich anfangs gar nicht so genau wusste, wo diese eigentlich war. Vielleicht gab es sie zunächst auch nicht.

Aufrüsten. Bereit. Sein. Und-

Wir mussten so viel zurücklassen.


Perspektive 1 (Olga):

Ich musste so viel zurücklassen. Alles das hier tue ich für meine Familie. Sogar mein Land.

Ich bin nie für Patriotismus gewesen, denn ich weiß um unsere Vergangenheit. Doch es braucht Antrieb, Wille, um jeden Morgen, Mittag, Abend zu den Waffen zu greifen. Den Kopf auszuschalten und nachzuladen. Auf Hüllen zu schießen, die danach leblos zu Boden fallen.

Eigentlich bin ich des Wollens müde. Eigentlich will ich aufgeben. Will, dass wir aufgeben. Will-


Perspektive 2 (Alexander):

14 Uhr 36. Die Schreie gehen wieder los.

„Flieger! Flieger! Flieger!“.

Ich will mich nicht ducken, doch ich werde zu Boden gezogen.

Wir nennen sie Brieftauben. Die Flieger. Denn die Botschaft ihres Fluges erfordert eine Antwort. Ihre Provokation eine Reakti-

„Welle auf 12 Uhr!“. „Vorrücken!“. „Zu den Waffen!“.

Hör auf nachzudenken, hör auf, hör auf, hör auf.

„Kamerad-“


Perspektive 1 (Olga):

„-es geht los! Vorrücken!“

Ich war noch nie in der ersten Welle. Das Kugelfutter. 14 Uhr 43. Warum. Warum. Warum.

Erst zehn Schritte und sie fetzen die ersten Löcher. Zehn Schritte, zehn Menschen. Vielleicht mehr. Sicher mehr. Wie zerknallte Papiertüten gehen sie zu Boden, Lungen entleerend. Der Boden wackelt. Es ist wie immer. Immer. Immer. Immer.

Nie hätte ich gedacht, dass ich dich wiedersehe. Zu lange schon glaubte ich dich verloren.

„Vorwärts!“

Ich spüre meine Füße den Boden nach vorne abschleifen. Befehl, muss also, muss. Abdrücken. Einmal. Zweimal. Dreimal. Mein Schädel dröhnt schon. Hör auf. Hör auf zu zählen.

„Nachrücken. Zweites Bataillon, Richtung-“

Wage mich. Wage dich. Weiter.


Perspektive 2 (Alexander):

„Weiter! Weiter!“ Weitere Tote. Weiters Blut. Blut. Blut. Ich blute. Ich-


Perspektive 1 (Olga):

Stürze mich auf ihn. Den Soldaten vor mir. Reiße ihm die Flagge von der Brust. Drei Streifen, diese drei grellen Streifen, sind mein Stier-Rot. Waffe. Messer. Ich will ihm die Kehle aufschlitzen. Will. Den Helm abreißen. Muss. Nur. Noch. Den. Helm.


Perspektive 2 (Alexander):

Ich stöhne auf. Gleißendes Licht schlägt mir in die Augenhöhlen. Frühling. Frühling. Frühlingsluft. Ich will doch nur noch-


Perspektive 1 (Olga):

Vergessen. Dieses Gesicht vergessen. Es ändert alles. Alles. Es. Wie viele andere…

„Was willst du später eigentlich mal werden?“ „Ähm kein Schwerverbrecher ist eine Antwort, oder?“ „Jetzt mal ernsthaft.“ „Historikerin?“ „Mmh.“ „Du? Künstler?“ „Vielleicht.“ „Dann werde ich Journalistin, muss doch schließlich jemand über deine Kunst berichten.“ „Danke auch, du erbarmst dich.“ „Amen.“

Meine Hände greifen zu meinem Helm. Reißen. Die Erinnerung. Mit sich. Wird er mich-


Perspektive 2 (Alexander):

Erkennen. Ich erkenne sie. Ich-

„Werden wir uns aus den Augen verlieren?“ „Wie meinst du?“ „In ein paar Jahren?“ „Könnte ich nicht. Ich brauche dich doch.“ „Ich weiß.“ „Gefällt dir das?“ „Ich dich auch.“ „Gut.“ „Ich könnte dich nicht verlieren.“ „Ich werde nicht gehen.“ „Ok.“ „Du auch nicht?“ „Nein. Nicht ohne dich.“

Habe sie überall gesucht. Habe sie vermisst. Uns. Unsere Gespräche.

„Nein.“, höre ich mich sagen. „Das kann nicht…Ich-“


Perspektive 1 (Olga):

Bin Atemlos. Sprachlos. Für einen Moment. Oder auch zwei.

Etwas in mir zerbirst in diesem Moment und setzt sich nicht wieder neu zusammen. Kann mich nicht lösen, von seinem Anblick. Aber ich muss mich lösen. Muss-

„Vorrücken! Bataillon drei!“

Plötzlich bemerke ich, dass das Gefecht nicht schläft, die Wellen preschen. Weiter.

Meine Stimme bricht mehrmals, bevor ich kreische: „Aufhören! Aufhören!“.


Perspektive 2 (Alexander):

Ihre Rufe stiften Verwirrung auf dem Feld. Ich sehe es an den Helmen, die sich in alle Richtungen drehen.

„So hört doch auf! Seht ihr nicht? Seht ihr nicht?“

Und die ersten beginnen zu blicken. Hinüber, zwischen ihre Scheuklappen links und rechts.

Sie blicken, glotzen, doch hoffentlich hören sie auch:

„Wir sind vom selben Blut.“


Perspektive 1 (Olga):

Vom selben Stamm.

Wir sind vom selben Stamm. Alle. Jeder, der seinen Helm abnimmt, kommt mir irgendwie bekannt vor. Oder will ich es nur glauben? Eigentlich will ich es nicht glauben. Will nicht glauben, dass ich ihn getroffen habe. Hier. Vor mir. Unter mir. Dass ich ihn fast…

Aber warum? Wie haben wir nicht gemerkt, dass wir gegen …

Blind.

Auch wir waren-


Perspektive 2 (Alexander):

Blind. So blind. Blind, blind, blind. Ich wünschte ich wäre es noch, um nicht in die Fratzen meiner aschfahlen Freunde blicken zu müssen. Aschfahl, kreidebleich, jung und doch alt. Meine Gegner.

Wie viele weitere liegen zu meinen Füßen? Wut steigt in mir auf. Mir ist kotzübel. Kotzübel. Kotzü-

Sie haben es gewusst.

Sie haben uns einander abschlachten lassen, uns betrogen, sie-


Perspektive 1 und 2 (Olga und Alexander):

-haben uns benutzt.


 

Inga Hagemann, erzähl was über dich!

©Inga Hagemann, 2022


Ich bin 2004 in Vechta geboren und schreibe Lyrik und Kurzgeschichten, meist über Banalstes im großen Stil oder schlichtweg Menschen in den verschiedensten Situationen. Ich habe Veröffentlichungen im Magazin ZEITLICHKEITEN und in Anthologien des Geest-Verlags, doch am meisten bin ich literarisch aktiv auf @ingatheearthling (Instagram).






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